CRASHKURS IN SACHEN LEBEN
Nein, damit ist nicht zu spaßen: Es erfordert Geduld und Nehmerqualitäten, sich an einem einzigen Abend von einem einzigen Menschen das ganze Leben erklären zu lassen. Eric van der Zwaag übernahm beim Monospektakel des Reutlinger Theaters Tonne den kräftezehrenden Job.
Als Dame im grauen Kostüm unter einem etwas irritierenden Vollbart lieferte er mit dem Werk „Die Regeln der Lebenskunst in der modernen Gesellschaft“ von Jean-Luc Lagarce eine Regieanweisung für das korrekte, und wenn doch nicht korrekte, dann zumindest regelkonforme Leben von der Geburt bis zum Tod.
Während sie Glühbirnen in eine Lichterkette einschraubte, deren Defekt dem Publikum einen nicht eingeplante Pause bescherte, und einen Pavillon aufbaute, eröffnete die Dame dem Publikum wichtige Details, wie den ordnungsgemäßen Meldevorgang bei einer Totgeburt, gab Hinweise zu den, nicht zu unterschätzenden, Aufgaben eines Paten und informierte pflichtschuldigst über alle möglichen und unmöglichen Taufnamen. Wie wäre es zum Beispiel mit Theophobio oder Primitiva oder Grotti? Die richtige Voraussetzung für eine „fröhliche Schulzeit, einen heiteren Militärdienst“. Einer der wenigen Augenblicke in dem die Bühnenfigur Ironie aufblitzen lässt.
Die Regie von Anke Bußmann setzt absolut richtig, aber grausam auf die Logik des Textes, er ist eine beschwörende Litanei, die den Verhaltenskodex der „zivilisierten“ Welt als nahezu sinnfreies Gerüst entlarvt, an das sich auch die Bühnenfigur klammert. Oder doch nicht? – Es gibt zwei winzige Momente, die aufhorchen lassen. Einmal steckt die Dame ihren Kopf völlig überraschend in einen Kinderwagen und lacht schallend los, ein anderes Mal geschieht in einer Ecke des Pavillons fast das Gleiche – nur könnte das Lachen jetzt auch ein Weinen sein.
Der Einsatz einer Dynamotaschenlampe und die offensichtliche Unfähigkeit der Hauptperson, irgendjemand um Hilfe zu bitten (für den Aufbau des Pavillons sind eigentlich vier Personen notwendig), sind weitere minimalinvasive Akzente, die es dem Publikum ermöglichen, die Verhaltenstherapie in vorwurfsvoll gepresstem Singsang zu überleben.
Wer nach mehr als zwei Stunden der Beerdigung (und damit dem vermeintlich nahen Ende) entgegenfieberte, wurde konsequenterweise enttäuscht. Denn selbst die Witwenzeit gehorcht natürlich äußerst komplizierten Spielregeln, die wohlbedacht sein wollen. Nach zweieinhalb Stunden ging der Crashkurs in Sachen Lebenskunst zu Ende. Eine satte Leistung von Eric van der Zwaag sorgte für Nachdenklichkeit und viel Applaus.
Bernhard Haage, SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 02.02.2013