»Die Arbeit geht vor. Sie kommt zuerst, zu zweit und zu dritt«, sagt der junge Philosoph Johannes Vockerat in Gerhart Hauptmanns Theaterstück »Einsame Menschen«. Am Donnerstag hatte das Stück in der Tonne (Spielstätte Planie 22) Premiere. Gerade hat Johannes, gespielt von Eric van der Zwaag, mit seiner Frau Käthe (Yvonne Lachmann) ein Söhnchen bekommen. Aber seine Gedanken drehen sich um ein Papierbündel mit zwölf Seiten Fußnoten in einem einzigen Kapitel. Besonders tragisch dabei ist, dass niemand in seinem Umfeld überhaupt verstehen kann, woran er eigentlich arbeitet. Nicht die wenig gebildete Käthe, nicht der letzte verbliebene Freund Braun (Charles Lemming) und auch nicht die Mutter (Kathrin Becker), die noch immer eine ziemlich mächtige Rolle in seinem Leben spielt. In diesen für den Intellektuellen deprimierenden Kosmos, bricht Anna Mahr (Galina Freund), eine ukrainische Studentin und Bekannte von Braun. Aufgedonnert mit Stöckelschuhen, Hochfrisur und Hotpants bleibt sie auf der Durchreise einfach bei den Vockerats hängen. Schnell stellt sich heraus, dass die äußere Fassade trügt. Johannes entdeckt in ihr erstmals einen Menschen, der ihm intellektuell ebenbürtig ist, und klammert sich verzweifelt, wie ein Schiffbrüchiger an einen Baumstamm, an diese neue Freundschaft.»Einsame Menschen« ist eine fesselnde Charakter- und Gesellschaftsstudie, die in der Tonne, unter Regie von Anke Bußmann eine ganz starke Besetzung gefunden hat. Van der Zwaag hat das absolute Gespür für die Rolle des »Doktors«, wie ihn Anna Johannes manchmal neckisch nennt. Überzeugend spielt er alle Facetten eines etwas überheblichen Intellektuellen, der an der Banalität und Ignoranz der Welt zu verzweifeln droht. Auch Lachmann ist eine Idealbesetzung für die Ehefrau und Mutter, die mit ansehen muss, wie ihr im eigenen Haus der Mann abhanden kommt. Wunderbar spielt sie zuerst die Unbedarftheit, dann das Befremden und schließlich die pure Verzweiflung.»Ein Haus ohne Glauben bricht über Nacht zusammen«, seufzt Becker, die als glaubwürdige Mutter von Johannes anfangs ebenfalls der Faszination von Anna erliegt, aber Panik bekommt, als sie bemerkt, wie die Familie aus dem Ruder zu laufen beginnt. Und Galina Freund ist auf der Bühne, genau so wie es diese Studentin aus der Ukraine wahrscheinlich im richtigen Leben wäre, etwas sonderbar aber in der Kombination aus Laszivität und Geist durchaus faszinierend. Als Bühnenbild (von Simone Manthey) genügt der Aufführung ein mit Blumenornamenten verzierter Raum mit einer Stereoanlage, einem Sessel, Klappstühlen und einer Tischtennisplatte, die freilich meistens als Frühstückstisch dienen muss. Links und rechts davon sitzt das Publikum, das von der schauspielerischen Leistung bei der Premiere zu Recht begeistert war und den Theaterabend erst nach langem Applaus beendete.
Matthias Reichert, SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 04.04.2009